Warum drei Juniors einstellen, wenn ein Senior mit KI reicht?
von Carolin Hauke
Das KI-Effizienz-Paradox: Wie Organisationen im Streben nach Optimierung ihre Zukunft riskieren
Eine verlockende Logik, die nicht aufgeht: Warum Effizienzgewinne heute zu Kompetenzverlusten morgen führen und warum kluge Organisationen jetzt umdenken müssen
Wir befinden uns mitten in einem faszinierenden Widerspruch: Während Führungskräfte händeringend nach Innovationskraft und zukunftsfähigen Talenten suchen, streichen dieselben Organisationen systematisch genau jene Positionen, in denen diese Fähigkeiten traditionell entstehen. KI macht es möglich. Die Logik erscheint bestechend: Warum drei Junior-Analysten einstellen, wenn ein Senior mit KI-Tools die Arbeit viel schneller und präziser erledigt? Warum Berufseinsteiger:innen durch mühsame Lernkurven begleiten, wenn GenAI Standardaufgaben im Bruchteil der Zeit bewältigt?
Die Antwort auf diese Frage wird erst sichtbar, wenn wir den Blick weiten – über Quartalsberichte hinaus, in die Zukunft unserer Organisationen. Denn was wir gerade erleben, ist eine neue Form des Innovator's Dilemma: Unternehmen tun das scheinbar Richtige und sägen dabei, ohne es zu merken, am Ast, auf dem sie sitzen.
Was wir verlieren, während wir vermeintlich gewinnen
Die Entwicklung ist deutlich: Seit dem Durchbruch generativer KI ist die Beschäftigung junger Berufseinsteiger:innen in KI-exponierten Bereichen um rund 15 Prozent zurückgegangen (Stanford University, 2025), während erfahrene Mitarbeitende stabil beschäftigt bleiben oder sogar an Jobs gewinnen. Hinter dieser Zahl verbirgt sich mehr als ein kurzfristiger Arbeitsmarkttrend: Wir sind gerade mittendrin, das Fundament der Kompetenzentwicklung zu demontieren, auf dem unsere Organisationen gebaut sind.
Einstiegspositionen schrumpfen dramatisch, gleichzeitig steigen die Anforderungen an verbleibende Entry-Level-Rollen immer weiter: Immer mehr "Einstiegsjobs" verlangen zwei bis drei Jahre Berufserfahrung. Denn während KI Skills zugänglicher macht, suchen Arbeitgeber nun vermehrt nach Menschen, die wissen, was sie mit diesen Skills anfangen. Eine Kompetenz, die nur durch Erfahrung entsteht. Und selbst wer diese Hürden überwindet, erhält im Arbeitsalltag immer weniger menschliche Begleitung, weil KI zunehmend Alltagsaufgaben übernimmt und damit die Berührungspunkte zwischen Juniors und erfahrenen Kolleg:innen reduziert.
Aus struktureller Perspektive bahnt sich hier ein systemisches Defizit an, dessen Auswirkungen erst mit Verzögerung sichtbar werden: Der Return on Investment von Mentoring war schon immer zeitverzögert und schwer zu beziffern. Mit KI wird diese Investition noch schwerer zu rechtfertigen – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem Nachwuchsförderung kritischer denn je wäre.
Auch die Wissensarchitektur selbst verändert sich fundamental: KI ersetzt vor allem so genanntes kodifiziertes Wissen, also vor allem Buchwissen aus formaler Bildung. Doch implizites Erfahrungswissen, also in der Praxis erworbene Kniffe und Intuition, bleibt analoges Terrain. Die Crux: Schaffen wir jetzt die Experimentierräume ab, in denen aus Theorie gelebte Kompetenz wird, hat dies eine nachkommende Generation zu Folge, die zwar formal exzellent ausgebildete Fachkräfte sind, die in der Komplexität realer Organisationen aber orientierungslos bleiben.
Warum klassische Antworten zu kurz greifen
Die gewohnten Lösungsansätze greifen hier nicht mehr, denn es reicht nicht, einfach mehr Weiterbildungsprogramme aufzulegen. Denn wem helfen klassische Upskilling-Initiativen, wenn es keine Positionen gibt, in denen Menschen das Gelernte anwenden können? Selbst gut gemeinte Talentprogramme laufen ins Leere, wenn die strukturellen Entwicklungswege fehlen.
Die Versuchung ist groß, auch hier auf KI zu setzen: KI-Coaches, digitale Mentor:innen, automatisierte Feedbacksysteme. Einige Unternehmen experimentieren bereits damit. Doch das ähnelt ein bisschen dem Versuch, Schwimmen aus einem Lehrbuch lernen zu wollen. Denn Mentoring funktioniert nicht nur über reinen Informationstransfer, sondern vor allem über Beziehung, über Vorbild und über das subtile Lesen von Situationen und Menschen. Wer nur mit KI lernt, lernt nie, was es heißt, in einer komplexen menschlichen Organisation zu navigieren.
Drei Handlungsfelder für zukunftsfähige Organisationen
Was also tun? Punktuelle Interventionen reichen nicht aus. Stattdessen benötigen wir ein Umdenken auf mehreren Ebenen gleichzeitig.
1. Die Lernarchitektur neu erfinden
Um implizites Wissen trotz KI-Automatisierung weiterzugeben, müssen wir Entwicklungswege schaffen, die nicht mehr an klassische Vollzeit-Entry-Positionen gebunden sind. Organisationen können mit Bildungseinrichtungen Hybridmodelle entwickeln: Mikro-Praktika, bei denen Studierende konkrete, bezahlte Projektarbeit für reale Unternehmen übernehmen. Externe Programme, die den Betreuungsaufwand für Unternehmen reduzieren. Oder apprenticeship-ähnliche Strukturen, in denen Lernen und Arbeiten von Anfang an verzahnt sind.
Entscheidend dabei: Diese Modelle müssen echte Arbeit mit echtem Feedback verbinden. Denn es geht nicht um Scheinpraktika oder reine Trainingsprogramme, sondern um reale Wertschöpfung bei gleichzeitiger strukturierter Entwicklung. Vorreiter wie IBM mit dem Programm Extreme Blue demonstrieren bereits die Machbarkeit. Jetzt gilt es, diese Piloten zum Standard zu entwickeln.
2. Mentoring als strategische Investition verankern
Solange Mentoring als zusätzliche Aufgabe gilt, die man erledigt, wenn man Zeit hat, wird es in der KI-Ära verschwinden. Organisationen müssen Mentoring deshalb aus dem Nice-to-Have-Bereich in den Kernbereich strategischer Personalentwicklung überführen.
Das beginnt damit, Mentoring-Zeit als festen Bestandteil der Arbeitszeit von Senior-Mitarbeitenden zu definieren und bei der Zielvereinbarung zu berücksichtigen. Konkret könnte das bedeuten: Ab einer bestimmten Karrierestufe sind z.B. 15 Prozent der Arbeitszeit für Mentoring reserviert, werden in Kapazitätsplanungen berücksichtigt und sind nicht verhandelbar. Das Ergebnis: Mentoring findet tatsächlich statt, weil es strukturell ermöglicht wird.
Ebenso wichtig ist es, Mentoring-Erfolge sichtbar zu machen und zu würdigen, nicht nur in Worten, sondern in Karriereentwicklung und Vergütung. Was gemessen wird, wird gemacht. Führungskräfte sollten auch daran gemessen werden, wie viele Menschen sie entwickelt haben und wie erfolgreich ihre Mentees wurden.
Entscheidend ist dabei, die verzögerte Wirkung von Mentoring zu akzeptieren. Investitionen in junge Talente zahlen sich zwar später aus – aber sie zahlen sich aus. Organisationen müssen lernen, mit dieser S-Kurve zu leben und langfristige Investitionen wertzuschätzen, auch wenn sie nicht im nächsten Quartal direkt sichtbar werden.
3. Den KI-Einsatz strategisch orchestrieren
Die Frage ist nicht Mensch oder Maschine, sondern: Wie gestalten wir die Arbeitsteilung so, dass KI uns entlastet, ohne uns unsere Zukunft zu nehmen?
Das bedeutet, bewusst Zonen zu definieren, in denen menschliche Entwicklung Vorrang vor maximaler Effizienz hat. Vielleicht übernimmt die KI 80 Prozent der Routineanalysen, aber die verbleibenden 20 Prozent werden gezielt Juniors zugewiesen. Nicht obwohl, sondern weil sie länger brauchen und Begleitung benötigen. Es bedeutet, KI als Lernpartner einzusetzen, der Seniors mehr Zeit für Mentoring verschafft, statt Juniors zu ersetzen.
Eine konsequente Umsetzung dieser Logik würde bedeuten: Die durch KI eingesparte Zeit wird nicht einfach in mehr Projekte gesteckt, sondern zu 50 Prozent für Mentoring und Wissensweitergabe reserviert. Partner:innen haben durch KI-Tools zwei Stunden pro Woche gewonnen und müssen nachweisen, dass mindestens eine davon in Entwicklungsgespräche fließt.
Zentral bei all dem ist vor allem eins: ehrliche Konversationen über die tatsächlichen Kosten zu führen. Was kostet uns die kurzfristige Effizienz langfristig? Welche Fähigkeiten trainieren wir uns ab? Wer wird in zehn Jahren unsere KI-Strategie entwickeln, wenn wir heute niemanden mehr ausbilden?
Zeit umzudenken und bewusst zu gestalten
Die KI-Revolution ist nicht aufzuhalten – und das muss sie auch gar nicht sein. Aber wir können entscheiden, wie wir sie gestalten. Organisationen, die jetzt klug investieren, werden in zehn Jahren einen entscheidenden Vorteil haben: einen Pool an Führungskräften und Innovator:innen, die sowohl KI-Kompetenz als auch jenes schwer fassbare Tacit Knowledge besitzen, das nur durch menschliche Erfahrung entsteht.
Organisationen, die hingegen nur auf Effizienz setzen, werden feststellen, dass sie sich in eine Sackgasse optimiert haben. Sie werden zwar hocheffiziente Gegenwartsbewältigung betreiben, aber keine Zukunft gestalten können.
Noch können wir das verhindern. Aber dafür müssen wir aufhören, Talententwicklung als Kostenfaktor zu betrachten, und beginnen, sie als das zu sehen, was sie ist: geduldiges Kapital für das Wachstum von morgen.
Carlin Hauke
Senior Consultant
"Die KI-Revolution ist nicht aufzuhalten – und das muss sie auch gar nicht sein. Aber wir können entscheiden, wie wir sie gestalten. Organisationen, die jetzt klug investieren, werden in zehn Jahren einen entscheidenden Vorteil haben: einen Pool an Führungskräften und Innovator:innen, die sowohl KI-Kompetenz als auch jenes schwer fassbare Tacit Knowledge besitzen, das nur durch menschliche Erfahrung entsteht."
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Lea-Sophie Karle,
Business Partnerin Portfolio